Macht(Missbrauch) in der Musikbranche
Liebe Menschen,
Es hat einige Zeit in Anspruch genommen, auf die derzeitige Situation in der Musikbranche, aktuell ausgelöst durch die Vorfälle, die rund um die Konzertevents von #rammstein beschrieben wurden, reagieren zu können.
Und zwar aus mehreren Gründen:
1) Es gilt gut abzuwägen, was ein Statement bewirken kann, wem es nützt und wem es Schaden zufügen kann.
2) Braucht es dieses eine Statement mehr wirklich bzw. von wem würde es ein Statement eigentlich brauchen?
3) Welche Themen werden wie in den Aufmerksamkeitsfokus gerückt?
Da ich mich in meinem neuen Album „hoid“ gerade sehr aktuell mit Themen wie Macht(Missbrauch), struktureller Ungleichheit und einem gesellschaftlichen wie individuellen Umgang damit auseinandergesetzt habe, hat sich mir diese Frage, ein Statement abzugeben oder nicht in den letzten Wochen immer dringlicher gestellt.
Der Faktor Inhalt
Themen wie (Un)Gerechtigkeit, (Ohn)Macht, (Un)Verhältnismäßigkeit, Solidarität, Loyalität, (In)Transparenz, Abgrenzung, Ausharren, Durchhalten, und vor allem (Zivil)Courage und all die damit verbundenen Folgen (innen und außen, gesellschaftspolitisch und persönlich) beschäftigen mich innerhalb und außerhalb der Musikszene schon sehr lange. Ein ganzes letztes sehr aktuelles Album lang habe ich mich nun konkret mit ihnen auseinandergesetzt.
Je genauer und intensiver ich eintauchte, desto größer, verwobener, unglaublicher und desto struktureller bedingt erschien es mir.
Und desto dringlicher stellte sich mir die Frage eines möglichen Umgangs, eines Aufzeigens, einer Haltung.
Nicht-Beschäftigung, Nicht-Aufzeigen, Nicht-Haltung erwies sich als keine geeignete Option mehr.
In der Folge ging und geht es auch um eine Ursprungserkundung, ein Reflektieren der strukturellen Gegebenheiten, der Systeme, die den Nährboden bieten bzw. solche Auswüchse begünstigen oder zumindest ermöglichen – und – in die wir hineingeboren und erzogen wurden.
Ich habe das in mehreren Posts immer wieder thematisiert und abgehandelt, auch wenn es leider unangenehm und unbequem war und ist.
Den derzeitigen #rammstein Diskurs beobachte und verfolge ich sehr genau.
Wahrheit und Schuld
Jede Form von Angriff impliziert eine prekäre Situation und löst eine weitere aus – auf beiden Seiten. Immer.
Eine Anschuldigung thematisiert in irgendeiner Form Grenzgänge, bzw. eher Grenzüberschreitungen. Und gleichzeitig zieht sie einen weiteren Grenzgang nach sich. Es wird unangenehm auf beiden Seiten. Und außen kommt es – wohl je nach gesellschaftlicher Struktur – zu ersten Abwägungen, Diskussionen, Lagerbildungen.
Die Frage der Glaubwürdigkeit betritt jetzt ebenso die Bühne wie der Hinweis auf die Unschuldsvermutung.
Ich habe jahrzehntelang mit Menschen therapeutisch gearbeitet, die Grenzüberschreitung, Gewalterfahrung und Missbrauch ausgesetzt waren. Wenn ich etwas dabei gelernt habe, dann jedenfalls das Folgende:
Diese Personen vertrauen sich mir an, weil wir uns dieses Vertrauen erarbeitet haben innerhalb eines therapeutischen Beziehungsprozesses, in dem ich ein sicheres Setting anbiete, das diesen Schritt der ersten Öffnung überhaupt ermöglicht.
Und dann ist es immer noch sehr filigran und es ist schambesetzt. Dabei fängt die eigentliche Aufarbeitung erst an, der emotionale Aufwand oszilliert weiter und erreicht neue Spitzen. Es ist ein bedrohlicher und bedrohter sensibler anstrengender Prozess.
Ich erinnere mich noch genau an jenen ersten Moment in meiner jungen musiktherapeutischen Berufserfahrungswelt, in dem sich eine Jugendliche mir öffnete mit einer ersten vorsichtigen Erwähnung ihrer Mißbrauchserfahrungen.
Ich erinnere mich auch an all die Gefühle, die mich überkamen, die es zu ordnen und zu reflektieren galt, die Zuordnung die es zu treffen galt – und – ich sage es hier ganz offen – die Zweifel, die mich ebenso überfielen, wenn ich daran dachte, was es in der nächsten und übernächsten Konsequenz alles heißen würde für einen potentiellen Täter – in welches Licht, welchen Fokus, welche gesellschaftliche Ächtung es ihn bringen würde. Von meinem Gefühl her wollte ich doch ganz ganz sicher gehen, ob hier auch wirklich die Wahrheit gesagt wurde, ob auch wirklich klar wäre, welche Folgewirkungen dadurch ausgelöst werden könnten.
Und das alles überkam mich innerhalb weniger Sekundenbruchteile. Alles auf einmal.
In Ansätzen habe ich diesen ersten gesellschaftlichen Reflex, der sich in unseren Gesellschaftsnormen immer wieder zeigt, nämlich mutmaßliche Täter erstmal schützend wieder aus dem Fokus zu nehmen, also sekundenbruchteilmäßig durchaus selbst erlebt.
Solidarität und Teilen
Heute weiß ich, dass Opfer von Übergriffen jeglicher Form mehrere Anläufe brauchen, bis sie ernst genommen werden, bis ihnen geglaubt wird. Welch schmerzhafte, demütigende Situation!
Diese Frage der Zuordnungen stellt sich mir heute im Moment des Mit-Mir-Teilens nicht mehr.
Es gilt, voll und ganz da zu sein, aufzufangen, ernst zu nehmen und zu glauben, was man hört. Es geht darum, Affekte zu teilen und das Unfassbare, das Unglaubliche (!) gemeinsam auszuhalten. Das Ordnen und Reflektieren folgt später.
Was ich damit sagen will:
Durch das Aufzeigen einer übergriffigen Situation den Fokus auf sich richten zu wollen, Aufmerksamkeit zu kriegen ist aus meiner professionellen Sicht eine mehr als fragwürdige, um nicht zu sagen perfide Behauptung einer unsicheren und unreflektierten dritten Partei – im konkreten Fall unserer Gesellschaft, die sich mit ihren vorherrschenden moralisch ethischen Regelwerken und Strukturen nicht getraut, Stellung zu beziehen.
Es ginge darum, Stellung zu beziehen zu einer Entwicklung, die sie selbst die letzten Jahrzehnte aufgebaut und zugelassen hat und die jetzt relativ dringlich einer Evaluierung und eines Neudenkens und -definierens bedürfte.
Prestige oder auch Geld – auch diese Vorwürfe stehen dann ja im Raum – mit einem so schweren Thema lukrieren zu wollen ist den emotionalen Aufwand, die Schmach und Scham, die einen überfluten, die Drohungen und Angriffe, die ein Öffentlichmachen meist nach sich ziehen im Normalfall einfach nicht wert.
Es gibt dies auch, jedoch in einem verschwindend kleinen Anteil (erst kürzlich habe ich einen Artikel darüber gelesen) und meiner therapeutischen Einschätzung nach deutet das eigentlich auch auf eine zumindest äußerst problematische Vorgeschichte hin. Eigenes Thema, auch wichtig, sich zu trauen hinzusehen, ja!
Schuld ist ein großes Wort, Wahrheit auch.
Und doch stellt sich die Frage, wem eine Gesellschaft Glauben schenkt.
Vielen?
Einem?
Und warum glaubt man wem?
Und warum wem nicht?
Welche Relativierung findet hier statt?
Warum?
Und was übernehmen die Medien?
Frau müsste wissen, worauf sie sich da einlässt
Gewalt ist Gewalt, Machtmißbrauch ist Machtmißbrauch, Übergriff ist Übergriff. Wenn dies in Systemen stattfindet, die derartige Situationen offenbar geradezu begünstigen (bis hin zu rechtfertigen), dann spricht das eine klare definierte Sprache einer bestimmten Struktur. Dann gewähren wir als Gesellschaft diese geschaffenen Räume, in denen so etwas stattfinden kann.
Dagegen verwehre ich mich. Ich möchte solche Systeme nicht unterstützen. Nicht mehr.
Ich hatte viele Idole. Ich hätte sie auch gerne kennengelernt. Ich hätte wohl auch einiges dafür getan. Heute weiß ich – nein zu sagen, wenn es angebracht ist, ist nicht so leicht. Schon gar nicht, wenn die Machtverhältnisse nicht klar sind. Oder wenn sie klar sind.
Und schon gar nicht, wenn es gesellschaftlich moralisch nicht ganz klar ist, ob das eine Grenze ist oder vielleicht doch nicht so ganz überall – je nachdem…
Ich bin 47 Jahre alt und arbeite immer noch daran, meine Awareness zu schärfen und mich und meine Grenzen besser zu erkennen und dann auch zu wahren. Also zu spüren und zu definieren, wann und warum sie wo angebracht sind.
Sehr lange habe ich gebraucht, um zu erkennen, dass nicht automatisch ich mit meinem Verhalten die Ursache darstelle, wenn sich jemand mir gegenüber grenzüberschreitend verhält.
Auch auf die Gefahr hin, dabei mit alteingesessenen patriarchalen gesellschaftlichen Normen zu kollidieren und auf erste kürzere Sicht womöglich auch mit meinem beruflichen Weiterkommen.
Zu schwierig, zu laut, zu fordernd, zu anstrengend, zu hysterisch usw. sind noch immer willkommene gern genützte diskreditierende Ablenkungsadjektive für unbequeme Realitätskonfrontationen (vor allem, wenn sie durch Personen gemacht werden, die sich nicht als cis-Männer definieren wie z.B. Frauen).
Alles Liebe
Sibylle
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